Dieser Blogbeitrag von Domingos de Oliveira, Trainer und Dozent für Inklusion und Barrierefreiheit, erschien zuerst auf der Seite www.oliveira-online.net
Der Klimaschutz wird zurecht in vielen Medien diskutiert. Eines der wichtigsten Anliegen dabei ist eine Verkehrswende. Seltsamerweise höre ich da kaum Stimmen von behinderten Menschen oder ihren Verbänden, Auf den Veranstaltungen zu diesem Thema kommen die Anliegen behinderter und älterer Menschen im Grunde nicht vor. es ist Zeit, das zu ändern.
Der tägliche Verkehrsinfarkt
Niemand ist mit der heutigen Verkehrssituation in der Großstadt zufrieden: Pendler stehen im Stau, die Öffis sind die meiste Zeit überfüllt, verspätet und unzuverlässig, Fahrradfahrer leben gefährlich und die Fußgänger werden so behandelt, als ob sie nicht existieren.
Auf dem Land finden wir das Gegenteil: Es gibt teilweise keine Verkehrsversorgung, so dass die Menschen von der Großstadt ohne eigenen fahrbaren Untersatz praktisch ausgeschlossen sind. Das gilt natürlich auch für Behinderte, die nicht in der Stadt leben wollen oder können. Motorisch Behinderte sind viel stärker von der Wohnungsknappheit betroffen, weil sie barrierefreie Wohnungen und Zugänge brauchen. Diese Wohnungen sind vor allem in den Ballungszentren praktisch nicht mehr zu bekommen. Behinderte sind deshalb oft gezwungen, in die Peripherie der Städte oder aufs Land mit der schlechten Infrastruktur zu ziehen.
Keine Verkehrswende ohne uns
Das Problem der Verkehrswende lässt sich klar in einem Satz zusammenfassen: Die Politik traut sich nicht an einen großen Wurf heran, der aber notwendig wäre. Stattdessen doktert sie an einzelnen Symptomen herum, die das Problem aber eher verschärfen. Jüngstes Beispiel dafür sind die Elektro-Scooter. Ein paar Radwege, Elektro-Ladestationen und Elektro-Autos lösen aber exakt kein einziges Problem, sie werden selber zu einem Problem. Als Super-Lösung erscheint das Fahrrad.
Nun bin ich durchaus ein Freund der Fahrradisierung der Innenstadt. Aber nicht unter heutigen Bedingungen. In Bonn gibt es jetzt schon viele Bürgersteige, die wegen abgestellter Fahrräder, anderer Fahrzeuge und dem ganzen anderen Zeug für Behinderte unbenutzbar sind. Das gilt für Blinde mit ihrem Blindenstock, für Rollstuhlfahrer, für Rollator-Nutzer, für Personen mit Kinderwagen und so weiter. Auf die Straße auszuweichen ist teils nicht machbar und teils gefährlich. Wir können uns lebhaft vorstellen, was passiert, wenn auf den Bürgersteigen noch mehr Fahrzeuge, Ladestationen und so weiter dazu kommen.
Hinzu kommt, dass auch die Fahrradfahrer selbst eine Bedrohung sind. Ich stelle jeden Tag fest, dass auf Personen mit einem Blindenstock gar keine Rücksicht genommen wird. Warum muss man trotz ausreichend breiter Wege 10 Zentimeter an mir vorbei rasen, obwohl man den Stock genau gesehen hat? Ich kann nicht anders als das als asoziales Verhalten zu bewerten.
Die Fahrradfahrer fordern mehr Rücksichtnahme von Autofahrern. Gegenüber Fußgängern verhalten sie sich aber wie Rambos auf zwei Rädern. Ich habe tatsächlich nichts dagegen, wenn sie auf den Bürgersteigen unterwegs sind, aber mir leuchtet nicht ein, warum sie das nicht in einem vernünftigen Tempo tun. Wenn alle künftigen Radfahrer sich so verhalten, dann verzichte ich lieber auf die Verkehrswende. Nicht die Fahrradfahrer, sondern die Fußgänger und andere Nutzer des Bürgersteigs sind die am meisten gefährdete und behinderte Gruppe im Straßenverkehr.
Was zu tun ist
Man muss kein Verkehrs-Experte sein, um das Notwendige auszusprechen. Offenbar fällt es aber doch dem Laien, also mir, zu. Das Problem ist, dass wir den großen Wurf brauchen, denn das Rumgefrickel der letzten 40 Jahre hat die Probleme nur verschärft. Es müssen mehrere Maßnahmen parallel durchgeführt werden:
- Der private Autoverkehr muss weitgehend aus der Innenstadt verschwinden. Das Car-Sharing muss konsequent gefördert werden, denn die meisten privaten autos stehen die meiste Zeit ihrer Existenz ungenutzt herum und tun nichts, als Platz weg zu nehmen.
- Die Auto-Parkplätze insbesondere in den Innenstädten müssen reduziert und zu Abstellplätzen für Fahrräder und andere Kleinfahrzeuge umgestaltet werden. Am besten überdacht und mit einem passablen Diebstahlschutz.
- Der ÖPNV muss massiv ausgebaut, billiger, zuverlässig und barrierefrei werden.
- Das Tempo in der Innenstadt muss heruntergefahren werden: Tempo 30 ist vollkommen ausreichend. Parallel sollen Fahrräder und andere Klein-Fahrzeuge dazu berechtigt sein, die Straßen zu nutzen und zwar gleichberechtigt mit den verbleibenden Groß-Fahrzeugen. Den Groß-Fahrzeugen müssen sämtliche Vorrechte entzogen werden, die sie aktuell auf der Straße genießen. Es müssen keine neuen Radwege gebaut werden, für die in der Innenstadt ohnehin kein Platz wäre.
- Die Bürgersteige sollen den Fußgängern, Rollstuhlfahrern, Rollator-Nutzern und anderen langsamen Personen vorbehalten bleiben, Maximal-Tempo 6 km/h. So können auch ältere Menschen, die elektro-Kleinfahrzeuge verwenden wollen, sich aber nicht auf die Straße trauen mobil bleiben. Die Kommunen müssen dafür sorgen, dass ausreichend komfortabel nutzbare Flächen freibleiben. Slalom-Laufen ist keine Lösung. In jedem Fall muss so viel Platz sein, dass zwei Personen aneinander vorbeigehen können, ohne dem Anderen auf die Pelle zu rücken.
- Es braucht flexible und günstige Lösungen, auch für Behinderte, um Zentrum und Peripherie besser miteinander zu verknüpfen. Eine Möglichkeit sind barrierefreie Anruf-Sammeltaxis oder barrierefreies Car-Sharing.
- Die Fußgänger und andere langsame Nutzer des Bürgersteiges sollen als gleichberechtigte Partei neben Klein- und Großfahrzeugen wahrgenommen und behandelt werden.
Es versteht sich von selbst, dass man für besonders herausgeforderte Personen wie Familien mit kleinen Kindern, Gehbehinderte, chronisch Kranke und so weiter besondere Lösungen braucht. Für den gesunden Durchschnitts-Bürger hingegen muss das Privat-Auto möglichst unattraktiv und der ÖPNV im gleichen Zuge möglichst attraktiv werden.
Heute ist genau das Gegenteil der Fall: Wer nicht muss, nutzt den ÖPNV nicht. Die Deutsche Bahn hat ihre Zuverlässigkeit in den letzten Jahren offenbar systematisch verschlechtert. Wir haben wie in vielen Bereichen seit Jahrzehnten Stillstand.
Weiterhin wird bei der Verkehrswende der zweite Schritt vor dem ersten gemacht: Der erste Schritt wäre, die Mobilitätsanlässe drastisch zu reduzieren. Zu den möglichen Maßnahmen gehören der Ausbau des Internet-Zugangs auch in der Peripherie, ein funktionierendes eGovernment, eine großzügige Home-Office-Regelung und der konsequente Einsatz von Fern-Kommunikation, um unnötige Dienstreisen zu verringern. Auch das sind Maßnahmen, von den viele behinderte Menschen profitieren könnten.
Fazit
Die Verkehrswende ist nur ein Aspekt, der uns beim Klimawandel betrifft. Vieles spricht dafür, dass uns Behinderte der Klimawandel besonders treffen wird. Fast alle Behinderten leben in Entwicklungsländern. Sie sind nicht mobil und den Folgen von Dürre und Überschwemmungen praktisch schutzlos ausgeliefert. Doch auch hierzulande sind viele Betroffen. Das Thema Strohhalme mag uns banal erscheinen, für die Betroffenen ist es durchaus relevant.
Umso wichtiger ist es, dass sich mehr Behinderte bei den Diskussionen um den notwendigen Wandel einbringen.
Ich finde es bedauerlich, dass einige Beteiligte versuchen, einen Generationen-Konflikt aufzumachen. Wenn eine Verkehrswende vernünftig gestaltet wird, können alle profitieren: Die Kinder und die Jugend, die Mittel-Alten und die Senioren. Denn im Grunde, das schrieb ich oben, ist niemand mit der heutigen Situation in den Städten zufrieden, selbst die Autofahrer wünschen sich heimlich, dass es weniger Autoverkehr und weniger aggressives Verhalten auf den Straßen gäbe.
(Illustration: Stefan Bayer – pixelio.de)